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  • EINE STUDIE ZUR FUNKTIONALEN NACHVERDICHTUNG VON 46 GROSSWOHNANLAGEN DER STADT WIEN

Wie interpretieren wir die weiträumigen Areale der sogenannten Großwohnanlagen für eine zeitgenössische Gesellschaft und ihre Probleme? Welche Ressource stellen die in die Jahre gekommenen Wohnquartiere der Wohlfahrtsgesellschaft für unsere Städte dar? Wie besetzen wir die oftmals monotonen, nach fordistischen Prinzipien in Betonfertigteilbau errichteten Wohnquartiere der Nachkriegszeit positiv? Welche Rolle kommt dabei der Frage nach neuen Formen der Arbeit und Beschäftigung zu? Mit welchen architektonischen und städtebaulichen Mitteln stärken wir die Qualitäten der Anlagen? Und welche Rolle können die Bewohner/innen in einem positiven Prozess der notwendigen Weiterentwicklung einnehmen? Dies sind Fragen, die den Entwurf der Wunschmaschine Wohnanlage geleitet haben.

Die Wunschmaschine umfasst 46 Großwohnanlagen im Eigentum der Stadt Wien mit jeweils mehr als 500 Wohneinheiten, die zwischen 1950 und 1980 erbaut wurden. Zusammengenommen ist die Wunschmaschine also ein Konzept für die Nachverdichtung und die programmatische Neuausrichtung eines Viertels des Gemeindebaus und seiner Grünflächen in Wien. Sie ist eine affirmative Vision. Sie entwickelt die Großwohnanlagen. Sie schafft funktional durchmischte, zeitgenössische Quartiere in der Stadt. Ziel ist es, den bestehenden Luxus und die Qualitäten der Anlagen zu stärken und eine Partizipation des Zusammenlebens (und nicht des Bauens) zu begründen.

Großwohnanlagen der Gemeinde Wien

In anderen Worten ist die Wunschmaschine ein räumlicher, sozialer und programmatischer Rahmen für die urbane Entfaltung der monofunktionalen Quartiere. Sie führt einen neuen Rhythmus in die fordistisch getakteten, von oben herab verwalteten Wohnareale ein. Sie stellt ein Gedankenexperiment dar, über neue Formen der kollektiven Arbeit und des gemeinschaftlichen Wohnens eine partiell autonome, selbstorganisierte Ökonomie innerhalb der Anlagen zu etablieren. Durch die Größe der Quartiere strahlt die Wunschmaschine auf die Stadt und ihre Gesellschaft aus.

Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist die Fragestellung, die in der Ausschreibung des „Roland-Rainer-Forschungsstipendiums 2014“ der Stadt Wien und der Bundeskammer der Architekt/inn/en und Ingenieurkonsulent/inn/en formuliert war und als Schwerpunkt auch im Wiener Stadtentwicklungsplan STEP 2025 zu finden ist: „Wie könnte man die (Wiener) Großwohnanlagen, die zwischen 1950 und 1980 erbaut wurden, weiterbauen und damit Urbanität erzeugen?“

Im Gegensatz zu einer Auftragsstudie eröffnet ein Stipendium einen Raum, in dem die Grenzen der Architektur und ihrer Mittel ausgelotet werden können und die normative Kraft des Faktischen für einen Moment außer Kraft tritt. Der Entwurf hinterfragt oftmals die als natürlich erscheinenden gesellschaftlichen Vorstellungen, wie wir zu leben und zu arbeiten haben, wie der Wohnungsbau und seine Wohnraumverteilung funktioniert, dass ein Gebäude eine auf eine Nutzung spezialisierte Immobilie sein muss, wie wir uns organisieren und regieren lassen. In diesem Sinne ist die Wunschmaschine Wohnanlage als ein streitbarer Beitrag zur Diskussion über die Zukunft der Stadt Wien und ihr städtisches Zusammenleben zu verstehen. 

Die Wunschmaschine ist jedoch eine reale Utopie. Die Wunschmaschine bezieht sich direkt auf die Realität und ihre juristische, ökonomische und gesellschaftliche Rahmung. Sie ist innerhalb dieser realisierbar. Die Wunschmaschine entwickelt sich aus der Wiederholung und Verschiebung bestimmter Aspekte und Technologien der Realität. Der Entwurf spannt einen großen Bogen und bietet eine realisierbare Vision an, die sich auf nahezu alle Großwohnanlagen Wiens anwenden lässt. Der Maßstab der ganzen Stadt und aller Großwohnanlagen ist schon alleine deshalb notwendig, um ein schlummerndes, und zur Zeit bestenfalls von oben herab verwaltetes Potenzial der Gemeinde Wien sichtbar zu machen. Der große Maßstab kann aber auch die vielen faszinierenden und zukunftsweisenden Mikroinitiativen der Zivilgesellschaft aus einer anderen Perspektive kritisch evaluieren, um sie für die Gesellschaft jenseits exklusiver Gruppen nutzbar zu machen. 

Die Wunschmaschine schlägt eine proaktive Intervention in den Anlagen vor, die jenseits der derzeitigen Bedarfspolitik angesiedelt ist. Es geht in dem Entwurf also nicht darum, den Bedarf der Bewohner/innen zu erfassen, um ihn dann in der Folge zu befriedigen und die Gesellschaft ruhigzustellen. Der Entwurf zielt vielmehr darauf ab, die Menschen im Prozess des Wohnens und Arbeitens ernst zu nehmen und teilhaben zu lassen sowie ihre Energie für eine gemeinsame Zukunft zu aktivieren. Die Architektur der Wunschmaschine ist zugleich Zeichen und Organisation einer Gesellschaft und ihrer Stadt, die sich aus der bestehenden und spezifischen Situation in Wien heraus entwickelt. 

Exemplarische Anwendung der Wunschmaschine

  • ARBEIT IST URBANITÄT

Die Hypothese der Studie ist, dass, wenn die Arbeit verschwindet, auch die Urbanität verloren geht. Die vorkapitalistische Stadt und ihre dichte Mehrfachnutzung von Raum ist eine geeignete Hintergrundfolie für diese These. Dabei geht es nicht um die formalen und ästhetischen Argumente über ein pittoreskes Stadtbild, es geht nicht um den angeblich menschlichen Maßstab dieser Städte und es geht nicht um die damaligen und heute überkommenen Gesellschafts- und Regierungsformen. Es geht vielmehr um die enge Verwebung und Mehrfachnutzung von öffentlichem und privatem Raum und seiner Ökonomie. Diese Verflechtung hat sich seit der ersten industriellen Revolution sukzessive entflochten. Der öffentliche Raum wurde zunehmend zur Konsumzone degradiert. Durch die weitere funktionale Ausdifferenzierung in den Großwohnanlagen fehlt auch das. Übrig bleiben Wohnhäuser und Parkanlagen. 

Die Großwohnanlagen sind gebaute Bilder der Vorstellung von Reproduktion – von Wohnen, Haushaltsarbeit und Freizeit – in der Wohlfahrtsgesellschaft vis-à-vis der Produktion – der Industrie, der Administration und dem Handel. Für den Entwurf der Wunschmaschine ist es wichtig, die Großwohnanlagen als Fortführung der Idee des isolierten Wohnens seit der Industrialisierung zu verstehen. Die Großwohnanlagen stellen in diesem Sinne keinen Sonderfall der Wohnungsfrage dar, die es zu problematisieren gilt. Sie sind in eine Genealogie der funktionalen Ausdifferenzierung der Stadt und ihrer Regierungsformen eingeschrieben, die sich seit der ersten industriellen Revolution herausgebildet hat und mit dem Verschwinden von Leben und Öffentlichkeit erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt erreicht. Die Großwohnanlagen explizieren dabei einen Aspekt der sozialliberalen Wohlfahrtsstaatspolitik, die wesentlich auf Wachstumsökonomie und Automatisierung (unter anderem der Bauproduktion) basierte, Wohnungsraum für alle bereitstellen wollte und die Freizeitgesellschaft in Aussicht stellte. Die städtebauliche Doktrin dieser Zeit folgte der funktionalen Trennung von Produktion und Reproduktion, wie sie in der Charta von Athen (1943) formuliert war und in den Großwohnanlagen erstmals in Reinform umgesetzt wurde. 

Eine Evaluierung und Revision der Großwohnanlagen durch ein Weiterbauen muss gerade an der funktionalen Trennung von Produktion und Reproduktion ansetzen. Es geht darum, die ausgelagerte Arbeit und den Handel wieder in das städtische Gefüge und ihre Ökonomie zu integrieren und diese Aufgabe als Chance für andere und neue, selbstorganisierte Formen des gemeinsamen städtischen Wohnens und Arbeitens zu verstehen. Die neue funktionale Verwebung darf sich nicht in der Diskussion über die Erdgeschosszone erschöpfen, die doch nur der Logik spezialisierter Immobilienentwickler entspricht. Konsumzonen im Erdgeschoss produzieren vielleicht ein Bild von Urbanität, ändern aber nichts an der zunehmenden Vereinzelung der Bewohner/innen in ihren Wohnungen, die vermehrt keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen werden und zudem nur mehr als passive Bürger/innen die Angebote der Politik konsumieren wollen.

Für unsere Situation heute sind die Großwohnanlagen und ihr Weiterbauen gerade in ihrer Relation oder eben Nicht-Relation zur Arbeit extrem wichtig und können auch als Modellfall und Warnung für derzeitige Stadtentwicklungsgebiete verstanden werden. War die Produktion in den Nachkriegsgesellschaften noch teilweise in öffentlicher Hand und als strategisches Instrument der Steuerung vorhanden, so ist sie heute im doppelten Sinne ausgelagert und immer mehr von der menschlichen Arbeitskraft Mitteleuropas entkoppelt. Zum einen wird die Produktion seit den 1970er-Jahren sukzessive in andere Länder umgesiedelt oder weitreichend automatisiert. Zum anderen ist die Produktion heute privatisiert und in der Hand global agierender Konzerne, deren Interessen ursächlich andere sind als die lokaler Gesellschaften. Es entstand eine neue Abhängigkeit der Kommunen und ihrer Gesellschaften von der Produktion und der Schaffung von Arbeitsplätzen, die sich im zeitgenössischen Städtewettkampf und dem Buhlen um Betriebsansiedlungen widerspiegelt und in dem der öffentliche und öffentlich geförderte Wohnungsbau oft das letzte Instrument ist, aktiv in die Entwicklung der Stadt einzugreifen und mitgestaltend zu wirken. Paradox ist jedoch das Verharren in dieser Abhängigkeit. 

Gerade mit Blick auf die Weltwirtschaft und die Vollautomation durch die Industrie 4.0 braucht es eine gesellschaftliche Strategie, wie mit dem Verschwinden der Erwerbsarbeit umgegangen werden kann. Derzeit entstehende kooperative Modelle, wie sie in solidarischen Landwirtschaftsinitiativen oder teilweise auch in Baugruppen zu finden sind, können als Beispiele für eine zukünftige gesellschaftliche Strategie dienen. Sie zeigen in Ansätzen, wie dies schon im größeren Maßstab die Siedlerbewegung der frühen Zwischenkriegsjahre gezeigt hat, wie eine neue Ökonomie entstehen kann, die sich teilweise vom freien Markt entkoppelt. Es gilt, diese Initiativen zu verallgemeinern, um sie einer breiten Masse zugänglich zu machen, wie ich in der Studie vorschlage.

  • WUNSCHMASCHINE WOHNANLAGE, EINE STUDIE ZUR FUNKTIONALEN NACHVERDICHTUNG VON 46 GROSSWOHNANLAGEN DER STADT WIEN
    SONDERZAHL, WIEN: 2016

  • ERMÖGLICHT DURCH DAS ROLAND RAINER PROJEKTSTIPENDIUM 2014
    MITARBEIT: Teresa Klestorfer, Daniela Mehlich
    Grafik Design: Astrid Seme