Essay

  • Manfredo Tafuris Diagnose der sozialistischen Wohnbaupolitik Wiens zwischen 1919 und 1933.

1980 erschien in Italien ein bemerkenswertes Buch über das Rote Wien. „Vienna Rossa – Die Wohnungspolitik im sozialistischen Wien 1919–1933“ ist die erste und bis heute in ihrer Art einzige, umfassende kritische Bestandsaufnahme der sozialistischen Wohnbaupolitik Wiens in der Zwischenkriegszeit. Eloquent verknüpft es die theoretischen Grundlagen der österreichischen Sozialisten, die Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) im österreichischen Nationalrat sowie im Wiener Landtag mit der Produktion von Wohn- und Stadtraum sowie ihrer Architektur. Das Buch war das Ergebnis einer 10-jährigen Forschung an der Abteilung für kritische und historische Studien der Fakultät für Architektur an der Università IUAV in Venedig, die parallel auch die Wohnbauprogramme der Weimarer Republik (insbesondere in Berlin) und der Sowjetunion vergleichend untersuchte.

Geleitet wurden die Forschungen von keinem geringeren als dem italienischen Architekturtheoretiker Manfredo Tafuri. Tafuri, der eng mit der Arbeiter/innenbewegung Italiens verbunden war, sticht als Figur der Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts besonders hervor. Er verstand Architektur nicht bloss als lineare Abfolge von Stilen, sondern begriff Architektur als eine Praxis der unaufhörlichen Auseinandersetzung mit Theorie und Kritik, sowie mit den alltäglichen Zwängen und Realitäten die Architektur bedingen. Seine Texte sind faszinierende Zeugnisse eines Denkens, das es schafft sowohl zeitgenössische Architektur als auch historische Epochen und Bauwerke nicht nur in ihrem formalen Ausdruck zu begreifen, sondern Bauwerke in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Dimension zu denken. Tafuris Projekt war es, die Realität, in die Architektur eingebettet ist, zu analysieren und daraus die Rolle, die Funktion und die Aufgaben von Architektur jenseits irgendwelcher disziplinärer Ideologien weiterzuentwickeln.

Das Buch selbst ist in fünf Abschnitte geteilt. Den Hauptteil nimmt der Text Tafuris ein. Darauf folgt eine typologische Analyse der Wohnbauten Alfredo Passeris, eine Sammlung kurzer Textbesprechungen Tafuris rund um die Debatte des Roten Wiens, eine städtebauliche Analyse, sowie ein Katalog der Gemeindebauten des österreichisch-italienischen Architekten Paolo Piva.

Für Tafuri ist Wien „beispiellos (…) in jeder Hinsicht“. Sei es nun die austromarxistische Theorie, die die Politik inspirierte, seien es die ökonomischen und administrativen Instrumente, die für den Wohnungsbau zur Anwendung kamen, aber auch die Wohnbauten selbst. Es sind jedoch die Konflikte der Theorie, der politischen Vorstellungen und ihrer Sprachen, sowie des urbane Umfelds mit all seinen Implikationen, die Tafuri in der Umsetzung des Wohnbauprogramms herausarbeitet und damit das austromarxistische Denken und Handeln huldigt, das „den Realismus zur Bedingung der Utopie erhebt und durch die Utopie der Wirklichkeit trotzt,“ aber auch das „politische Debakel“ des Wiener Modells sichtbar macht.

Für Tafuri sind es die „originellsten marxistischen Denker jener Zeit“ die das Projekt des Roten Wien erst ermöglichen und gleichzeitig aber auch in ihren allzu pragmatischen Handlungen scheitern lassen. So ist es Otto Bauers Vorstellung von Stadt als philanthropische und pädagogischen Maschine, in der Mietzinse für Kleinwohnungen, Werkstätten und Geschäftslokalen nur die Selbstkosten decken dürften, sowie der Idee von Selbstverwaltung im Wohnungsbau als Instrument zur Erziehung zur Demokratie. Andererseits war es die zu sehr an Konsens interessierte Politik der SDAP, die es im Nationalrat nicht schaffte Reformvorhaben, wie die Verstaatlichung der Schlüsselindustrie, durchzusetzen. So erst wurde Wien nach dem Bruch der Koalition und der gewonnenen Gemeinderatswahl im September 1920 der pragmatische Bezugspunkt für ein exemplarisches Modell einer sozialistischen Verwaltung. Eine Verwaltung jedoch, die von Reformen, die direkt in die Produktionsverhältnisse eingreift, Abstand genommen hat und dies mit Ersatzhandlungen, wie großabgelegte öffentliche Projekte und der Reorganisation der kommunalen Verwaltung kompensiert. Gleichzeitig wird das sozialistische Wien aber im Widerstreit mit dem Bund ökonomisch isoliert und war damit, so Tafuri, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Das neue sozialistische Wien entwickelt sich von innen heraus und sind von einem Übermaß an Realismus geleitet. Wie Tafuri konstatiert, sind sie visionslos und beschränken sich auf die Abstimmung der bestehenden städtischen Organisation. Das sozialistische Wien ist schon das neue Wien. Die Stadtplanung negiert die Notwendigkeit die Stadt anders zu organisieren. „Vielmehr soll eine Art ‚Stadtausstellung‘ entstehen, eine gewaltige Schau des neuen proletarischen Ethos, vergegenständlicht und verdichtet in Arbeiterwohnungen.“ So richten sich weitläufigen Wohnkomplexe, die als autonome Einheiten in das Stadtgefüge implantiert werden, weitgehend nach den bestehenden städtebaulichen Vorhaben der Jahrhundertwende.

Manfredo Tafuri: Vienna Rossa (1980): Page 166-167

Auch wenn sich die städtische Grossform gegenüber der kleinteiligen Siedlungsstruktur durchsetzt, so stehen die spezifischen Ausformulierungen der Wiener Wohnhöfe tendenziell in einer Tradition des Wohnens, das insbesondere auf die „betrübliche Wirklichkeit der Mietskaserne, das traurige Symbol des metropolitanen Mangels“, verweist. Auf städtebaulicher Ebene ist das Hauptproblem für Tafuri die überproportionierte Masse der Wohnbebauungen, die die Kompaktheit der Stadt destruieren, sowie die programmatische Eigenständigkeit der Wiener Höfe, die sich von ihrer städtischen Nachbarschaft trennen.

Durch die Verdrängung der fröhlichen Apokalypse der Wiener Moderne steht die Architektur des Roten Wien in einer konservativen „national-populären“ Tradition, die Tafuri unter anderem in den formalen Anklängen an die Heimatkunst des Metzleinstaler Hof (1919-23), oder den in der Biedermeiertradition stehenden Wohnbauten in der Justgasse (1923) und in der Berzeliusgasse (1925) erkennt. Für Tafuri kommen die Architekten des Roten Wien, die zuvor für die Monarchie gebaut hatten, mit dem sozialistischen Auftraggeber und dem neuen Programm nicht zu Rande und sind teilweise auch, wie dies in der Biografie Karl Ehns ersichtlich wird, der sich ab 1934 den Austrofaschisten und später den Nationalsozialisten zuwendet, von ideologischem Wankelmut gekennzeichnet.

Auch die avancierten städtebaulichen Modelle von Peter Behrens, dem Tafuri einen längeren Exkurs widmet, bleiben in Wien utopische Entwürfe. Dennoch plant Behrens mit dem Winarskyhof (1924-26) zusammen mit Josef Hoffmann, Josef Frank, Oskar Stand und Oskar Wach, sowie dem Wohnblock in der Konstanziagasse (1926) zwei Wegmarken des Wiener Gemeindebaus. Der Karl Marx-Hof, als Herzstück des Roten Wiens, wiederrum expliziert die Verweigerung des Roten Wien sich der Arbeitswelt, dem Leitbild des Fliessbandes unterzuordnen. Im Karl Marx-Hof wird deutlich, dass in Wien Elemente der europäischen radikalen Architektur des „Neuen Bauens“ nicht brauchbar sind. Dies spiegelt sich unter anderem auch im Desinteresse an avancierten Grundrisslösungen oder gar Standards wider, die international unter anderem mit Fragen zum „Wohnen für das Existenzminimum“ verhandelt wurden. So konstatiert Tafuri, dass der „Qualität und Fülle der Gemeinschaftseinrichtungen (…) überraschende Mängel bei der Einteilung und Errichtung gegenüberstehen,“ was für ihn auch mit dem geringen technologischen Niveau mit dem der Wiener Wohnbau umgesetzt wurde im Zusammenhang steht.

Manfredo Tafuri: Vienna Rossa (1980): Page 242-243

„Die Galaxie der Höfe bildet eine ‚virtuelle Stadt‘, dazu bestimmt, eine solche zu bleiben,“ schreibt Tafuri. Die Höfe sind in sich geschlossene Schlösser für die Arbeitenden. Sie spannen einen von der Realität der Stadt abgekoppelten und schützenden Kosmos der Kollektivität auf, der jedoch aus den „utopischen Inseln symbolische Zerrbilder einer nicht realen Welt macht.“ Wer dann durch die oftmals überdimensionierten und mit schmiedeeisernen Gitter versehenen Tore schreitet und den Hof verlässt, ist alleine und entfremdet.

Schlussendlich ist es für Tafuri die Unentschlossenheit der SDAP, sowohl in der Wirtschaftspolitik, als auch in der Form und dem Programm des Arbeiterwohnbaus, die das Rote Wien von Anfang an zum Scheitern verurteilt hat. Die Energie mit der das neue Wien Anfang der 1920er Jahre begonnen hatte und für einen Moment auch die Kraft hatte eine Utopie zu errichten, verebbt mit der Weltwirtschaftskrise und der zunehmenden politischen Entwicklung, die die tragischen Ereignisse im Februar heraufbeschwört und zur Diktatur Dollfuß führt. So endet die Bestandsaufnahme Manfredo Tafuris auch mit einem Zitat aus Anna Seghers’ Roman Der Weg durch den Februar: „Das ist alles nicht mehr, wie’s war. Der Karl Marx-Hof, der ist zwar nicht eingestürzt, der hat’s überstanden. Aber unser Glaube an die Partei …, der ist eingestürzt.“

Es wäre naiv direkte Parallelen zu der heutigen Verfasstheit der sozialdemokratische Partei sowie des Wiener Städtebaus und Wohnbaus zu ziehen. Die Idee der Selbstverwaltung des Gemeindebaus wurde niemals realisiert. Die aktuell realisierten Wohnungsgrundrisse sind nur in Einzelfällen avanciert. Die Standardisierung des Wohnungsbaus ist heute weit fortgeschritten und spiegelt die Vorstellung, wie die Menschen wohnen wollen, und insbesondere das Interesse der Industrie wider. Jedoch sticht die Beschreibung des Roten Wiens als eine Art ‚Stadtausstellung‘ heraus, wenn man an das Projekt der Internationalen Bauausstellung 2022 denkt. Auch hat es den Anschein, dass das stiefmütterliche Dasein des Wiener Städtebaus schon im Roten Wien angelegt war. Und zuletzt ist es eben die von Tafuri angeprangerte Unentschlossenheit und der überbordende Pragmatismus der sich über die Jahre von jeglichem theoretischen Denken verabschiedet hat, der für die aktuelle Verfasstheit der sozialdemokratischen Partei wie ein Weckruf klingen müsste.

publiziert in:
FALTER, #37a/2019: Der Gemeindebau, ein kritischer Hausbesuch, Seite: 20-21