Opinion

2022 wird in Wien die Internationale Bauausstellung unter dem Motto „Neues Soziales Wohnen“ stattfinden. Doch wie neu und sozial ist der öffentliche Wiener Wohnbau heute wirklich? Ein Plädoyer für mehr Mut.

Wien gilt zu Recht als Welthauptstadt des öffentlichen und öffentlich geförderten Wohnbaus. Ein Wohnbau, dessen Ziel eine gerechte Ressourcenverteilung und qualitativ hochwertiger Wohnraum für alle ist. Demgegenüber steht seit jeher der Wohnungsbau des privaten Sektors, der sich durch Renditenmaximierung für die Investoren auszeichnet. In seiner 100-jährigen Geschichte entwickelt sich das Wiener Wohnungswesen jedoch von einem emanzipatorischen Projekt des Proletariats hin zu einem durchökonomisierten Unternehmen, in dem öffentlicher und privater Wohnbau zunehmend ununterscheidbar werden und damit auch die Errungenschaften für ein gutes und sozial gerecht verteiltes Zusammenleben in der Stadt in Gefahr geraten. Der Wohnbau ist heute zielgruppenorientiert individualisiert, thematisch gebranded und „partizipativ“ geplant. Zynisch mutet dabei die heute omnipräsente Diskussion über das Minimum an, das man für das Leben der Menschen als angemessen erachtet und das seit 2012 als SMART-Wohnbauprogramm verkauft wird. Hier nähern sich die Grundrissgrößen den winzigen Wohnungen des Zwischenkriegswohnbaus an, müssen jedoch allen derzeit geltenden Standards und Normen entsprechen. 

Die von Bürgermeister Michael Ludwig 2015 ins Leben gerufene Internationale Bauausstellung (IBA_Wien 2022) will im Jahr 2022 eine Reihe von Projekten eröffnen, die neue Impulse für die Stadt und den Wohnbau darstellen. Eine IBA wäre als international bewährtes Instrument der Stadtplanung geeignet, Innovationen zu fördern. Sie wäre eine Chance, räumlich-architektonische Experimente zu ermöglichen, die sich jenseits der rein ökonomischen Diskussion über Leistbarkeit als soziales Engagement verstehen und damit dem öffentlichen Wohnbau wieder Kontur verleihen können. Die derzeitigen Projekte der IBA Wien, die sich das Leitbild „Neues Soziales Wohnen“ auf ihre Fahnen geheftet hat, bleiben jedoch den normativen Vorstellungen von dem, was Wohnen ist, sowie den Vorgaben der Wohnbauindustrie und -politik verpflichtet. Der Eindruck entsteht, dass ohnehin geplante Projekte mit einem hübschen Mascherl versehen werden und Innovation sich auf rhetorische Gesten beschränkt.

Die Disziplin der Architektur, ihre Kompetenzen und ihr kritisch-konstruktiver Input werden dabei als unnötiges Wissen im Diskurs marginalisiert. In dieser Stadt hat das leider System. Bezeichnend ist, dass der Chronist moderner Architektur Siegfried Giedion in seinem Standardwerk „Raum, Zeit, Architektur“ die Architektur des Roten Wien nicht erwähnt. Auch „Vienna Rossa“, die fundierte Kritik des italienischen Architekturtheoretikers Manfredo Tafuri, die immerhin das Standardwerk der Rezeption des Wiener Wohnbaus in Italien, Frankreich, Spanien und Südamerika darstellt, wurde nie im Deutschen publiziert. Dies sind nur zwei historische Hinweise für eine strukturell geringe Wertschätzung von Architektur und ihrem kritisch-konstruktiven Potenzial für das Wiener Wohnbaumodell, das sich bis heute fortsetzt. 

Gerade aber eine Auseinandersetzung die sich jenseits ökonomischer Interessen ansiedelt und sich insbesondere der räumlichen Qualitäten der Organisation von Menschen in der Stadt bewusst ist, kann helfen, eine positive Vision einer lebenswerten Stadt für Alle zu entwerfen. Dies heißt nicht, die Ökonomie zu vergessen oder die Anstrengungen der derzeitigen Stadtregierung klein zu reden, leistbaren Wohnraum mit Hilfe der Instrumente der Raumordnung und der Bauordnung zu garantieren. Leistbarkeit ist jedoch kein Qualitätskriterium für nachhaltigen und zukunftsfähigen Wohn- und Stadtraum, sondern eine rein ökonomische Größe.

Ein Hinweis darauf, was zukunftsfähig sein kann, findet sich in der Geschichte des Wohnens. Der Wohnungsbau hat sich erst mit der ersten industriellen Revolution als Gegenüber zur Fabrik herausgebildet. Das Wohnen, wie wir es heute kennen, wurde über zwei Jahrhunderte hinweg eingelernt. Spätestens seit den 1970er Jahren erleben wir jedoch eine radikale Reorganisierung unserer Ökonomie. Die Erwerbsarbeit wird zunehmend vom Selbstunternehmertum abgelöst, die Kreativindustrie und Wissensarbeit gewinnen an Bedeutung und die schmutzige Industrie wird in ferne Länder ausgelagert. Der italienische Philosoph Mario Tronti hat uns mit dem Begriff der „gesellschaftlichen Fabrik“ ein probates Mittel in die Hand gegeben, die Veränderung auf einer städtebaulichen, räumlichen Ebene zu verstehen. Die Grenzen der Fabrik verschwinden und die Fabrik ergießt sich in die Stadt. Die ganze Stadt, die ganze Gesellschaft wird zur Fabrik.  

Dies bedeutet, dass sich der Grund, warum der Wohnungsbau ursprünglich entstanden ist, nämlich die Fabrik und ihr Regime, radikal verändert hat. So mutet es anachronistisch an, dass wir heute noch Wohnungen und Stadtquartiere errichten, deren Organisation den überkommenen Idealen und Normen einer komplett anders gelagerten Ökonomie und ihrer Gesellschaft verpflichtet sind und deren Wohngrundrisse bestenfalls den Industriestandards angepasst wurden. Wir brauchen heute Lösungen, die auf die offen zutage tretenden Realitäten der Gesellschaft reagieren: auf das Verschwinden der Erwerbsarbeit, der Fragmentierung von Familien, und so weiter. Solche Lösungen entwerfen dabei nicht nur neue Formen und Organisationen des städtischen Zusammenlebens, sondern werden dabei die gängigen Geschäftsmodelle der Wohnbauindustrie in Frage stellen. 

Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass die über 200 Jahre eingeübten Formen und Organisationen des Wohnens von heute auf morgen verlernt werden können. Die gezielte Öffnung des Diskurses, was denn der öffentliche Wohnbau jenseits der Anbiederung an liberale Ideen, wie der Individualisierung, sowie der Unterwerfung einer ohnehin konstruierten ökonomischen Knappheit heute sein kann und daran anschließende räumlich-organisatorische Experimente, wären erste, unbedingt notwendige Schritte dem Wiener Wohnmodell eine neue Kontur und eine Zukunft zu geben. Insbesondere die junge Generation von Architekten wäre dafür prädestiniert. Konkret könnte das heißen, 5% der Neubauleistung, also zirka 500 Wohnungen im Jahr, im öffentlich geförderten Wohnbau zweckgebunden für Experimente zu reservieren, die bestimmte Normen oder Vorstellungen, wie Wohnen auszusehen hat, außer Kraft setzen. Derartige Projekte wäre dazu angetan, alternative Formen und Organisationen des Zusammenlebens auszuloten. Gleichzeitig würden sie durch ihren Innovationscharakter die Grenze zwischen öffentlich-gefördertem und privatem Wohnungsbau wieder schärfen. Dann hätte das „Neue Soziale Wohnen“ seinen Namen verdient.

  • publiziert in: Der Standard, 19.01.2019